Eine Stelle, die 150 % fordert, Reisen in 12 Städte innerhalb von drei Monaten, ein intensives Privatleben und wenig Rücksicht auf die eigenen Ressourcen: So sah das Leben von Jennifer Chan de Avila mit Mitte 30 aus – und sie liebte es. Zu der Zeit arbeitete sie als Postdoc an einer Universität in Berlin mit dem festen Plan eine akademische Karriere zu verfolgen. Eine Karriere an der Uni bedeutet viel Druck, viele persönliche Opfer und viel extra Arbeit, um sich in der Akademischen Welt beweisen zu können. Aber Jennifer fühlte sich wohl mit diesem schnellen Leben. Stress war für sie bislang noch nie ein Problem gewesen, ob als Wissenschaftlerin, Journalistin oder beim Studentenjob im Nachtclub – auf ihren Körper und dessen Leistungsfähigkeit konnte sie sich verlassen, egal wie viel sie von ihm forderte.
Umso schwieriger war es für Jennifer, als ihr Körper ihr im Alter von 36 Jahren plötzlich eine Grenze aufzeigte, mit der sie erst deutlich später gerechnet hatte: Die Menopause. Wie bei ungefähr 1 % aller Frauen, setzte der natürliche Zyklus bei Jennifer schon etwa 15 Jahre früher aus, als es durchschnittlich der Fall ist.
Obwohl eine aus 100 Frauen die sogenannte «vorzeitige Menopause» oder «premature ovarial insufficiency» erlebt, wird kaum darüber gesprochen. Das führt dazu, dass auch Jennifer lange brauchte, bis sie ahnte, was los war und eine Diagnose hatte. Die vorzeitigen Wechseljahre gingen bei ihr mit hochgradig belastender Symptomatik einher: Extreme Hitzewallungen, bis zu 18 in einer Nacht. In der Folge Schlaflosigkeit und Müdigkeit. Tagsüber quälten sie Panikattacken, depressive Verstimmungen, die zu Schwierigkeiten bei der Arbeit führten. «Wenn mich jemand gefragt hat, ob ich eine kurze Präsentation zu meinen Ergebnissen vorbereiten könnte, bin ich teilweise in Tränen ausgebrochen. Ich fühlte mich keiner Aufgabe mehr gewachsen.», erzählt Jennifer.
Abschied von Jugend und Fruchtbarkeit
Ein paar Monate nach den ersten Symptomen wurde in der gynäkologischen Sprechstunde eine Eierstockzyste festgestellt und operativ entfernt. Diese machte man zunächst auch für die Beschwerden verantwortlich. Doch sie blieben. Der Beginn der Symptomatik fiel zusammen mit der Einnahme der «Pille danach», weshalb Unregelmässigkeiten im Zyklus zunächst damit in Verbindung gebracht wurden.
Irgendwann war Jennifer überzeugt, psychisch krank zu sein. Sie erkannte sich nicht wieder und konnte sich ihre Wesensveränderung nicht erklären. Als sie schliesslich eine endokrinologische Praxis aufsuchte, ging alles sehr schnell: Eine Blutprobe, eine halbe Minute Gespräch mit der Ärztin, Diagnose frühzeitige Menopause. Jennifers Hormonprofil entsprach dem einer Frau nach den Wechseljahren, also bereits in der Postmenopause. Diese Information wurde noch ergänzt mit der Frage nach einem Kinderwunsch und der Einschätzung, dass eine Hormonersatztherapie zwingend notwendig sei. Das kurze und wenig einfühlsame Gespräch liess Jennifer schockiert und verzweifelt zurück. Obwohl sie keinen Kinderwunsch hatte, wurde sie plötzlich konfrontiert mit dem – aus ihrer Perspektive – Ende ihrer Jugend, Weiblichkeit, Fruchtbarkeit. Diesen Attributen kommen in vielen gesellschaftlichen Kreisen, insbesondere in Jennifers Heimat Mexico, eine hohe Bedeutung zu.
«Patriarchale Gesellschaftsstrukturen lassen uns Glauben der Wert einer Frau hängt mit ihrer Jugend und Fruchtbarkeit zusammen, das gilt es aufzubrechen.»
Genau mit diesen sozialen Konstrukten beschäftigte sich Jennifer in ihrer Forschung. Ihr akademischer Fokus lag auf Geschlechtern und Geschlechterbeziehungen. Sie bewegte sich in einem modernen, fortschrittlichen Umfeld, und ihr war sehr bewusst, dass den Wert einer Frau über Fruchtbarkeit und Jugend zu definieren aus einem unterdrückenden patriarchalen System hervorging. Trotzdem überkamen sie nach der Diagnose Selbstzweifel, das Gefühl, ohne ihre Fruchtbarkeit nicht mehr vollwertig zu sein. Diese durch jahrelange gesellschaftliche Prägung aufgebauten Gedanken Konstrukte zu durchbrechen, waren die grösste Herausforderung für Jennifer. Zudem kämpfte sie damit, dass ihr die Wahl, eine Familie zu gründen, genommen wurde, unabhängig von einem aktuellen Kinderwunsch.
Bewegung, frische Luft und Dinge tun, die man liebt - Achtsamkeit ist für Jennifer seit ihrer Diagnose extrem wichtig.
Ausbildung zur Menopause-Doula
Nachdem Jennifer sich an den Gedanken der Menopause gewöhnt und eine Hormonersatztherapie, die glücklicherweise ihre Symptome linderte, begonnen hatte, folgte eine Phase der Rebellion. «Ich wollte life as usual, ich wollte arbeiten, feiern, trinken, daten, mein gewohntes Leben in Berlin nicht aufgeben.», berichtet sie. Doch langsam musste sie akzeptieren, dass ihr Körper Grenzen kannte, dass sie auf sich Acht geben muss. Diese Erkenntnis führte dazu, dass Jennifer nach und nach ihren Lebensstil umstellte: Sie reduzierte ihre berufliche Belastung, sorgte für genügend Schlaf, für Meditation, Sport, eine gesunde Ernährung und verzichtete auf Alkohol. Ayurveda, Yoga und Spiritualität haben am meisten dazu beigetragen, dass Jennifer sich in ihrem Körper wieder wohl fühlt. Mittlerweile ist diese Achtsamkeit selbstverständlich für Jennifer und auch ihr Umfeld hat sich daran gewöhnt. Ihr Freundeskreis stützte Jennifer in dieser Zeit, einige Freundinnen waren tief berührt und litten regelrecht mit ihr. So konnte sie auch über gelegentliche verständnislose Kommentare wie «Stell Dich nicht so an, bei mir waren die Wechseljahre auch nicht so schlimm» hinwegsehen, die zwar selten waren, aber durchaus vorkamen.
Jennifer musste feststellen, dass das Thema Menopause und vor allem die vorzeitige Menopause, kaum gesellschaftlich präsent sind. Die Herausforderung, die es für eine Frau bedeutet, wenn sie sich von ihrer Fruchtbarkeit verabschieden muss und sich das Gefühl breit machen, nun eine «alte Frau» zu sein, bleibt grösstenteils allein zu bewältigen. Dass die Gesellschaft postmenopausale Frauen häufig als «unsichtbar, irrelevant, unglücklich und bitter» darstellt, hilft dabei nicht. Um anderen Frauen in einer solchen Zeit zu unterstützen, bildet sich Jennifer aktuell zur Menopause-Doula fort. Eine Doula bietet in Ergänzung zur medizinischen Betreuung durch die Ärzteschaft mentale Unterstützung und nimmt eine Mentorinnen-Funktion während der anspruchsvollen Phase der Wechseljahre ein.
Zukünftig könnten zwei Ansätze helfen: Die Gesellschaft muss sich verabschieden von dem Ideal der Jugend und Fruchtbarkeit als wertendes Kriterium für eine Frau. Darüber hinaus muss durch Aufklärung und Beratungsangebote ein stabiles Netz geschaffen werden, das Frauen bei Eintritt in die Menopause und danach auffängt und stützt.
Informationen und Hintergründe zur vorzeitigen Menopause gibt es hier.